Textilindustrie

 


Mathieu-van-Delden-Platz: Informative Bronzen zur Geschichte der Textilindustrie.

 


Über der Stadt auf dem Dach des Wirtschaftszentrums, ehemalige Spinnerei A der Firma Gerrit van Delden & Co.

 


Zufallstreffen mit Gronauer Jugendlichen bei ihrer stadtgeschichtlichen Schnitzeljagd. Das Gruppenbild entstand auf dem Bahnhofsvorplatz vor der historischen Dampfspeicherlok. Im Hintergrund das ehemalige Verwaltungsgebäude der Firma Mathieu van Delden, heute Innovationszentrum und Stadtarchiv.

 

Zur Entstehung und zum Wandel der hiesigen Textilindustrie

Hanspeter Dickel

 

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fertigten viele Bürger Garne und Gewebe mit handbetriebenen Spinnrädern und Webstühlen in Heimarbeit. Mit der am 1. Juli 1854 erfolgten Gründung der Textilfirma Mathieu van Delden & Co. ist das entscheidende Datum für die industrielle Entwicklung in Gronau genannt. 1875 nahm die später zur größten Spinnerei auf dem europäischen Kontinent expandierende Spinnerei Gerrit van Delden & Co. den Betrieb auf. Weitere Firmengründungen folgten, zogen hier jedoch vergleichsweise wenige Folgeindustrien nach sich. Der Bau der Eisenbahnlinien von Dortmund und Münster über Gronau nach Enschede (1875) erfolgte auch in dieser Gründungsphase und trug wesentlich zur weiteren Entwicklung bei. Als Besonderheiten gelten die in direkter Grenznähe von niederländischen Unternehmern mit niederländischem Kapital und vorrangig niederländischen Arbeitern auf deutschem Territorium errichteten Spinnereien „Eilermark“ (Glanerbrücke, 1888) und „Deutschland“ (Brook, 1896). Bereits 1881 erfolgte in Epe die Inbetriebnahme einer Buntweberei (später auch Spinnerei und Färberei) der Gebr. Laurenz aus Ochtrup. Abgesehen von den mehrstufigen Betrieben M. van Delden in Gronau und Laurenz in Epe handelt es sich hier ausnahmslos um Spinnereien.   

 

Die Situation zu Anfang des 20. Jahrhunderts

Um die Jahrhundertwende (1900) wurde der seit 1880 anhaltende Textilboom gebremst, setzte jedoch 1903 wieder ein und hielt mit kurzen Unterbrechungen bis 1912 an. Eine Vielzahl von teilweise auch sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren sind für solche wechselnden Konjunkturen verantwortlich, u.a. das jährliche Ergebnis der amerikanischen Baumwollernte (Rohbaumwollpreis/Garnpreis), das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, Auftragslage, Absatzlage, Überproduktion und Konkurrenzdruck. Diese ständig wechselnden Umstände schlagen sich natürlich in den Betriebsergebnissen der Firmen nieder und sind mit entscheidend für deren Investitionsbereitschaft. Die insgesamt positive Entwicklung der Gronauer und Eper Textilindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte bei den bestehenden großen Firmen bis 1914 zum Abschluss der dritten Ausbaustufe.

Als Folge des Wirtschaftswachstums entstand ein enormer Arbeitskräftebedarf. Zwar pendelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einigen Phasen täglich bis zu 3.700 Arbeiter aus den Niederlanden ein, ihr Anteil verringerte sich jedoch zunehmend zugunsten der hier lange ansässigen bzw. der von außerhalb zugezogenen deutschen Arbeiterschaft. Lebten 1895 im Gebiet der heutigen Stadt Gronau rd. 9.500 Menschen, so waren es 1905 bereits rd. 14.000, also in zehn Jahren ein Bevölkerungszuwachs von fast 50 Prozent. Als weitere Folge der stetigen Entwicklung entstand direkt an der Grenze auf niederländischer Seite der Ort Overdinkel. Der Grenzort Glanerbrug wurde weiter ausgebaut. Damit findet der hohe Anteil niederländischer Arbeitnehmer auch eine räumliche Ausprägung im Nachbarland.

Die Wohnungsnot konnte durch die Bautätigkeit mehrerer Bauvereine gelindert werden. Nach Offenlegung neuer Straßen entstanden die noch heute für Gronau so charakteristischen, flächenhaft ausgedehnten Arbeitersiedlungen – mittlerweile privatisiert und individualisiert. Mehrere Firmen errichteten auch sogenannte Mädchenheime für ledige Frauen. Das Quartiergängerwesen (Schlafgänger) war ebenfalls ausgeprägt.

Die aufstrebenden Industrieorte Gronau und Epe wurden zu einem Schmelztiegel für Zugewanderte, speziell aus anderen textilen Industriegebieten des Deutschen Reiches. Die über einen langen Zeitraum gewachsenen räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen wurden plötzlich völlig neuen Anforderungen unterworfen. Neben den Betriebserweiterungen  und neuen Arbeitersiedlungen entstanden repräsentative Verwaltungsgebäude der Textilfirmen. Eine Villenbebauung im Bereich der Enscheder Straße und der früheren Wilhelmstraße führte zu einer Viertelsbildung der Oberschicht. Im Bahnhofsbereich wurde die Zollstraße zu einem von Schuppen gesäumten Verladezentrum, wie man es sonst nur aus Hafengebieten kennt. Die gesamte kommunale Infrastruktur musste dem allgemeinen Wachstum entsprechend verbessert werden. So wurden in der Zeit um die Jahrhundertwende auch eine Vielzahl öffentlicher Gebäude und Versorgungseinrichtungen neu gebaut (1898 Neuordnung der Gebietsstruktur von Gronau und Epe, verbunden mit der Verleihung der Stadtrechte an Gronau).

Die unterschiedliche Struktur der Ortskerne ist sowohl naturräumlich wie auch administrativ begründet. Während sich in Gronau in Anlehnung an die Festungsgräben eine mehrfach gestaffelte Bebauung auf engstem Raum um das ehemalige Schloss entwickelte, konnte sich das Dorf Epe ungehindert ausdehnen, bevorzugt in östliche und nördliche Richtung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen etwa 6.000 Flüchtlinge und Vertriebene nach Gronau und Epe: Großräumig angelegte Siedlungen verlagerten die Peripherie weiter nach außen, z.B. durch die Rübezahlsiedlung in Epe oder die ebenfalls seit den fünfziger Jahren bebauten Gebiete im Westen von Gronau (Nordfeld, Bögeholdsiedlung).

Seit Mitte der fünfziger Jahre geriet der textilwirtschaftliche Aufschwung ins Stocken. Die veränderte Marktsituation und notwendige Rationalisierungsmaßnahmen setzten immer mehr Arbeitskräfte frei. Die ehemals strukturstabilen Industriegemeinden mussten ihren Preis für die einseitige Wirtschaftsausrichtung zahlen. Von 1951 (8.467) bis 1983 (1.581) gingen allein in der Gronauer Textilindustrie rd. 7.000 Arbeitsplätze verloren.

Der Zusammenbruch des Delden Konzerns im Jahr 1982 führte zu einer Arbeitslosenquote von bis zu 26 %. Entsprechende soziale Probleme und eine innerstädtische Industriebrache von mehr als 50.000 qm waren die einschneidendsten Folgen dieses tiefen Schnittes in der Geschichte der Stadt. 1992 stellt Germania Epe die Produktion ein, 1998 wird die Produktion bei der Baumwollspinnerei Gronau (BSG) eingestellt, 2002 erfolgt die Schließung der Spinnerei Deutschland.

Stadtplanerisch betrachtet ergeben sich für Gronau mit dem Zusammenbruch der Textilindustrie auf den Geländen der M. van Delden-Fläche (fast 13 ha) und der G. van Delden-Fläche (fast 6 ha) nördlich des neu geschaffenen Stadtzentrums neue Perspektiven und die Chance der Innenstadterweiterung nach Norden. Nach dem großen Erfolg der hier 2003 größtenteils auf Flächen der ehemaligen Textilindustrie (Mathieu van Delden, Gerrit van Delden, Baumwollspinnerei Gronau) durchgeführten Landesgartenschau wird seither intensiv an Planungsvarianten gearbeitet – die Zukunft scheint zeitlos, wird allerdings täglich zur Vergangenheit …

Vergleichbare Ansätze zur Neugestaltung der Siedlungsstruktur gab es in den siebziger Jahren mit den hierzu durchgeführten innerstädtischen Flächensanierungen. Als Hauptbeweggründe galten die überalterte Bausubstanz und die nicht mehr zeitgemäße Infrastruktur. Die Stadterneuerungsmaßnahmen im Zentrum Gronau umfassen ein Gebiet von nahezu 12 ha, im Zentrum Epe fast 3 ha. Während in Gronau die Altstadtstruktur mit einer radikalen Flächensanierung aufgegeben wurde, hat man in Epe die vorhandene Zentrumsstruktur bewahrt und modernisiert.

Die Erhaltung und Sicherung von symbolträchtigen Gebäuden und Siedlungskomplexen, insbesondere der Relikte der Textilindustrie, zählen heute zu den vorrangigen Aufgaben der Stadtbildpflege. Wirtschaftszentrum, Innovationszentrum, Rock- und Popmuseum, Kletter- und Aussichtsturm, „Elefant“, Siedlung „Morgenstern“ und die Gebäude der ehemaligen Spinnerei Germania in Epe seien hier stellvertretend genannt.

Der Begriff „Strukturwandel“, Synonym für starke wirtschaftliche Veränderungen, ist verbunden mit dem Rückgang von Wirtschaftsbranchen, häufig auch mit erheblichen Arbeitsplatzverlusten in diesen Bereichen.

In Deutschland waren es vor allem drei Bereiche, die in den vergangenen 40 Jahren vom Strukturwandel betroffen waren: die Landwirtschaft, der Bergbau und die Textilindustrie. Alle verbindet, dass sie in den 50er und 60er Jahren erheblich zum industriellen Aufschwung beitrugen – und damit zur Steigerung der Einkommen.

Eine Vielzahl erweiterter und neuer Gewerbe- und Industriegebiete prägen in allen Stadtteilen weite Bereiche, insbesondere die Ortsränder. Zu den bereits in den siebziger und achtziger Jahren erschlossenen Industriegebieten Gronau-Ost, Gronau-Mitte, Königstraße, Schürblick, Gronau-West, Eßseite, Epe-Nord und Epe-Süd kamen u.a. das Industriegebiet „Am Berge“ und der „Industrie- und Gewerbepark an der Steinfurter Straße“.

Abschließend betrachtet können die Standortfaktoren des Wirtschaftsraumes Gronau als gut bezeichnet werden. Die Vielfalt in der Wirtschaftsstruktur, die Verkehrsanbindungen, das Angebot an Industrie- und Gewerbeflächen und die Lage zu den Absatzmärkten bilden gute Voraussetzungen für die Zukunft. Der Zusammenbruch der Textilindustrie konnte aufgefangen werden. Für die Zukunft wird es bedeutend sein, die Qualifikation der Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu verbessern.